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Home › Silesiana › Das Mädchen mit dem Gulden - 2. Teil

 

 

             
DIE EVANGELISCHE KIRCHE IN OBERSCHLESIEN



Das Mädchen mit dem Gulden1), II. Teil

Eine wahre Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges


 

 

II.
 

  Morgens in aller Frühe am folgenden Tag wurde der Wagen geladen und der Senior Süssenbach fuhr mit seinem Knecht Michael nach der etwa dreizehn Meilen entfernten Stadt Breslau. Wir werden nun sehen, wie er den Ratschlägen seiner lieben Chavah nachkam.

Auf dem Kornmarkt zu Breslau gab es Verkäufer in Menge, und derer, die da kaufen wollten, in übergroßer Anzahl. Aber doch nahm das Geschäft keinen Fortgang, oder vielmehr keinen Anfang. Denn die Kornhändler hielten solche hohe Preise, daß diejenigen, welche nicht durch die äußerste Not zum Einkauf getrieben wurden, eine günstigere Zeit abzuwarten für gut hielten, und diejenigen, die um der äußersten Not kaufen mußten, wenigstens noch auf einige Stunden Anstand nahmen, in der Hoffnung, die Händler würden wohl, um ihre Ware abzusetzen, um die Mittagszeit die Preise niedriger stellen. Aber eine eitle Hoffnung für die Armen. Die Verkäufer hatten sich über den Preis untereinander beredet, und da sie das ganze Jahr hindurch gute Geschäfte gemacht und einen reichen Sparpfennig zurückgelegt hatten, konnten sie es wohl längere Zeit mit ansehen. Denn bis zur nächsten Ernte mußte noch über ein halbes Jahr verlaufen und auf Zufuhr von auswärts war nicht zu rechnen, weil alle deutschen Länder durch den langen entsetzlichen Krieg ausgesogen waren und der Landmann oft säete, ohne zu ernten.

 

 

Als nun auf dem Markt Klagen über die teure Zeit und Scheltworte über die hartherzigen Getreidehändler immer lauter wurden, siehe, da fuhr ein neuer Getreidewagen herbei. Nachdem er unter den andern seinen Platz genommen, kamen sogleich einige Männer darauf zu, musterten den neuen Verkäufer und sagten halblaut vor sich hin: „das muß ein Pfarrer sein.“

„Ja, ihr habt Recht, Kinder,“ antwortete der Mann, der es gehört hatte, „ich bin der Pfarrer aus Pitschen. Welchen Preis hat denn das Getreide?“

„Das Korn 9 Gulden,“ war die Antwort, „und der Weizen 14 Gulden.“

„Hilf Gott!“ rief der Senior, „wie sollen die armen Leute das Geld erschwingen?“

„Das kümmert uns nicht,“ sagte einer der Wucherer, „man sieht es Euch an, daß Ihr den Handel nicht versteht. Ich rate Euch, verderbet uns den Preis nicht. Geht es heute nicht, so ist's morgen; wir haben nichts zu verlieren.“

Süssenbach schüttelte den Kopf, ließ seinen Knecht die Pferde in einen Stall abführen und bestellte ihn zu Nachmittag zu sich, um zu sehen, wie es gehe.

Es dauerte nicht lange, so umstand eine Menge Volks den neu angekommenen Getreidewagen. „Wie hoch im Preise?“ fragten mehrere. Süssenbach blickte unentschlossen bald auf die Käufer, bald auf die ihm zunächst stehenden Verkäufer; endlich, als er in den Mienen der Letzteren fast drohende Winke wahrnahm, antwortete er: „Neun Gulden,“ setzte aber sogleich mit geröteten Wangen hinzu: „das heißt richtig und reichlich gemessen.“

„Der gehört auch mit zu der Verschwörung, — es ist unmenschlich, von der Armut und der Hungersnot reich werden zu wollen! Die Obrigkeit muß hier eingreifen!“ Daraus zogen die meisten scheltend, ja fluchend ab. Unter den wenigen, die zurückgeblieben waren, befand sich ein sehr ärmlich gekleideter Bürger, der einen kleinen leeren Sack auf dem Rücken trug. „Es ist eine Schande,“ rief dieser aus, zu unserm Senior gewendet, Ihr könnt Euch nicht verleugnen, daß Ihr ein Geistlicher seid! Pfui über Euch, daß Ihr den Armen ein solches Evangelium predigt!“ Und damit machte er Miene fortzugehen unter dem Beifallsmurmeln der anderen Bürger.

„He, lieber Freund!“ rief ihm Süssenbach nach, „Ihr seid ungerecht gegen mich! Ihr habt mir ja noch gar kein Gebot getan! Doch kommt her! Ihr sollt nicht sagen, daß ein Geistlicher unbarmherzig ist! Kommt her, öffnet Euren Sack.“

— Und damit zog Süssenbach den Zögernden zu seinem Wagen hin, nahm ihm den Sack von der Schulter und füllte ihn bis zum Rand voll und sprach: „Hier mein Freund! Geht nun und sättigt Euch und die Eurigen und tut künftig uns Geistlichen kein solches Unrecht mehr an.“

Kaum hatte sich der beschämte Mann mit dem demütigsten Danke entfernt, als Süssenbach's Blick unter der Menge der Umhergehenden auf einen Mann fiel, der ihm Erinnerungen an vergangene Zeiten zu erwecken schien. Der Mann selbst, sehr ärmlich gekleidet, mit bleichen abgehärmten Zügen, wurde auch des Seniors gewahr, fixierte ihn überrascht einige Augenblicke und wandte sich dann kleinmütig und wie beschämt abwärts. „Werner!“ rief ihm jetzt Süssenbach nach, „Werner, bist Du es wirklich?“ Der Angerufene wandte sich um, und nach kurzem Zaudern eilte er auf den Senior zu und sagte: „Also ich täusche mich nicht.  — Du bist Süssenbach.“

„Mein lieber alter Freund,“ fuhr der Senior fort, „sehe ich Dich endlich nach 35 Jahren wieder! Aber vor allen Dingen, was fehlt Dir? Du bist krank! Bist Du wirklich derselbe Mann — der heitere Jüngling von damals, wo wir in enger Klause unsere Studia zusammentrieben? Dir geht es nicht wohl, das sehe ich! Was fehlt Dir, mein teurer Freund?“

Werner blickte beschämt um sich und antwortete dann leise: „Mir ist es trüb und traurig gegangen. Unglücksfälle mancherlei Art, besonders das Elend dieses endlosen Krieges haben mich ganz herunter gebracht. Es ist hier nicht der Ort, Dir den Gang meines Elends zu schildern; aber so viel muß ich Dir sagen, es ist heute nicht das erste Mal, daß ich mit meiner Familie keinen Bissen Brots habe, wenn nicht gute Menschen sich meiner erbarmen.“

„Höre, Werner,“ rief Süssenbach bewegt, „Gott weiß es, daß ich selber bis auf zwei Kreuzer kein bares Geld habe; aber sieh her, ich bin sonst reich genug. Hast Du niemanden bei Dir, der etwas tragen kann?“

Da rief Werner einen der umherstehenden Träger herbei, der zwei große leere Säcke trug. „Kommt hierher Freund, „rief Süssenbach dem Mann zu, „öffnet und helft mir.“ Bald waren die beiden Säcke überreichlich gefüllt und nun fuhr der Senior fort: „Hier, mein teurer Bruder, nimm. Gedenke meiner in Freundschaft, wenn Du mit den Deinen zu Tische sitzest. Geh mit Gott! Halte fest an ihm, und er wird Dich nicht verlassen. Kämpfe als Christ gegen alle Widerwärtigkeiten Deines Lebens, und vergiß nicht, daß der HErr niemandem mehr auflegt, als er zu tragen vermag. Vielleicht ist Deine Prüfungszeit bald überstanden.“

Werner war tief gerührt und beschämt zugleich; er weigerte sich einige Augenblicke, die Gabe anzunehmen, aber die eigene große Not und die ungestüme Bitte seines Freundes nötigten ihn dazu. Als er fortging und die Hand des Seniors mit Tränen im Auge drückte, sagte er: „Vergelte Dir's Gott, mein treuer Süssenbach! Du hast einen Verzweifelnden vom Abgrund gerettet!“

Während unser Süssenbach sich seiner herzlichen Freude überließ, fehlte es in seiner nächsten Nähe nicht an Witz- und Spottreden, welche die anderen Verkäufer über ihn ergossen — wenn auch nicht unmittelbar gegen ihn gesprochen, aber doch so, daß er alles verstehen konnte. Süssenbach lächelte schmerzlich über die unverdienten Verunglimpfungen. Freilich, als er jetzt daran dachte, daß er schon einen ziemlichen Teil seines Getreides weggegeben hatte und sich seiner lieben Chavah erinnerte, die den Erlös schon vorher berechnet und verteilt hatte, flog ein flüchtiger Schatten von Bedenklichkeit über sein Gesicht; aber schnell ermannte er sich wieder und sprach für sich hin: „Ist nicht die Gottseligkeit zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens?“ —

Unter den Käufern, die sich jetzt mehrten, war ein Mann, der seinem Äußeren nach wohlhabend sein mußte. Er hatte an verschiedenen Wagen das Korn geprüft und nach dem Preise gefragt, aber noch nirgends etwas gekauft. Jetzt näherte er sich unserm Senior und fragte, das Korn prüfend, nach dem Preis. Süssenbach sah ihn verlegen an und fragte endlich: „Herr, wie viel bietet Ihr mir?“

„Wisset ihr was,“ fragte der Mann, „irre ich nicht, so seid ihr ein Geistlicher, und des Handels wohl eben nicht sehr gewohnt. Die anderen alle halten auf neun Gulden; das ist zu arg. Ich biete Euch acht. Seid ihr es zufrieden, so kaufe ich alles, was Ihr noch im Wagen habt.“

„Von Herzen gern,“ antwortete Süssenbach, „ich hätte Euch auch noch einen billigeren Preis gesetzt.“

„Nein, nein!“ rief der Käufer aus, „was recht ist, lobet Gott. Man muß auch des Guten nicht zu viel tun. Unser Handel ist geschlossen: ich zahle Euch acht Gulden für den Scheffel und kaufe Euern ganzen Vorrat.“

Süssenbach war es zufrieden und empfing nun so viel Geld, daß es seine Börse kaum zu fassen vermochte. Als er nun dastand vor seinem leeren Wagen und auf die Verkäufer blickte, die ihre Waren noch feil boten, wurde ihm von allen Seiten mit gehässigen Mienen und Äußerungen begegnet, welchen er standhalten mußte, weil er nicht nach dem Namen des Wirtshauses gefragt hatte, wohin Michael mit den Pferden gegangen war. Endlich erlöste ihn die Ankunft seines getreuen Knechtes von dieser Pein. Dieser war nicht wenig verwundert, als er den schnellen Verkauf des Getreides erfuhr. Selbst die Pferde schienen besonders zufrieden zu sein, denn sie zogen den Wagen mit ungewöhnlicher Freudigkeit durch die Straßen, so daß Süssenbach, der erst außerhalb der Stadt aufsteigen wollte, Mühe hatte, nachzukommen.

„Wie wird sich Frau Chavah wundern und freuen, wenn ich nun schon morgen so reich in den Pfarrhof zu Pitschen einfahren werde. Es war ein guter Engel, den mir Gott gesendet — denn wenn ich mein Getreide hätte einzeln verkaufen müssen, wäre es wohl möglich, daß ich noch lange hätte verweilen und am Ende mit einem geringem Erlös zufrieden sein müssen. Aber,“ fuhr er in seinem Selbstgespräche fort, „meine Freude ist wohl nicht ganz recht und christlich. Denn nun ist mir ja die Gelegenheit, ja die Möglichkeit genommen, den Armen Brot zu spenden. — Die Möglichkeit? — Nein, Gott sei Dank, diese ist nie genommen — noch kann ich helfen.“ Und dabei fühlte er nach seiner wohlgefüllten Börse, die ihrer Schwere wegen ihn etwas zu belästigen begann.

Als er jetzt in der Nähe der langen Brücke kam, welche über die Oder führt, erschrak er über den Anblick so vieler Menschen, welche sichtbar von dem größten Elend heimgesucht, hier auf Vorübergehende warteten, um sie um ein Almosen anzusprechen. Das brach dem Senior das Herz, noch ehe jemandes Mund sich zur Bitte bei ihm geöffnet hatte. „Erwarte mich bei dem letzten Haus der Vorstadt!“ rief er dem Knechte zu, der nun rasch dahin fuhr.

Da saß nun zunächst ein von Hunger und Elend abgezehrtes Weib mit einem Kinde im Arm, dessen klägliches Geschrei den Vorübergehenden erschüttern mußte. Süssenbach näherte sich und fragte: „Was fehlt Euch, liebe Frau?“ „Mir fehlt nichts als der Tod,“ antwortete diese, „und ich will ihn mit meinem Kinde hier auf diesem Steine erwarten. Hoffentlich wird es nicht lange mehr dauern.“ „Das ist keine christliche Rede,“ entgegnete Süssenbach, „wisset ihr nicht, daß man den Tod weder wünschen noch fürchten soll, sondern geduldig abwarten?“ „Herr,“ sagte die Frau, „wo der Hunger am Leben naget, bleibt nichts anderes übrig. Wer satt ist, kann den Hungrigen leicht trösten.“ „Da habt ihr Recht,“ äußerte Süssenbach, „hier nehmt diesen Taler und geht und kauft Euch Brot. Lasset den Mut und das Vertrauen auf Gott nicht sinken. Gott lasset ja keinen Sperling vom Dach fallen, warum sollte er seine Menschen nicht retten! Geht und stärket Euch. Es gibt in der Stadt gewiß noch manches mitleidige Herz; zu seiner Zeit wird es schon der HErr für Euch erwecken.“

Die getröstete Frau trat sogleich wankenden Schrittes ihren Rückweg in die Stadt an, während der Senior den seinen über die Brücke fortsetzte. Aber er kam nicht weit, so sah er sich von einer Menge Armer umringt, welche ihn umso zuversichtlicher und stürmischer um Hilfe anriefen, als sie seiner Wohltätigkeit gegen die Frau Zeuge gewesen waren. „Kinder!“ rief er aus, „ich will Euch gern mit wenigem helfen, aber für Euch alle bin ich allein zu arm.“ Als er nun nach kleiner Münze in seiner Börse suchte, und nichts als nur Guldenstücke und Taler fand, sah er freilich zu spät ein, daß er sich auf solche Fälle hätte vorbereiten sollen. Indeß war dies nun zu spät. Aus allen Gesichtern kam ihm Not und Elend entgegen; zerlumpte Kleider, abgezehrte Wangen, abgemagerte Hände, hohle, tiefliegende Augen, und dazu das ängstlich-ungestüme Hilfegeschrei — hier mußte sich selbst ein Herz von Stein erbarmen. „Ich kann die Not nicht ansehen,“ sprach Süssenbach vor sich hin und öffnete seine Börse. Wo eine offene Hand sich gegen ihn hinhielt, da legte er ein Geldstück hinein, und als er damit fortfuhr, bis endlich der letzte, ein alter Mann, sein Almosen empfangen hatte und mit dem lautesten Danke von ihm ging, atmete der Pfarrer freier auf; denn nun konnte er doch ungehindert seinen Weg fortsetzen. „Wie groß ist doch die Not,“ rief er aus, und wie klein dagegen die Hilfe! Denn meine Gabe ist doch nur ein Tröpflein Wasser, das bald aufgezehrt sein wird. Nun Gott wird ja weiter helfen.“

Jetzt hatte er die Brücke hinter sich und vor sich des Weges sah er seinen Michael an dem bezeichneten Hause halten. Eben aber, als er einen schnelleren Schritt annehmen wollte, hörte er zu seiner Linken einen kläglichen Hilferuf. Er kam von einem Mann, der am Straßenrand lag, die beiden Stelzfüße vor sich hingestreckt, und mit den beiden Krücken sich den Rücken stützend. Süssenbach redete ihn liebreich an, empfing aber von dem an Gott und Menschen Verzweifelnden nur trotzige, bittere und gottlose Antworten. Der Senior ermahnte ihn mit allem Ernst und aller Liebe und sagte unter anderem: „Auch ich habe erfahren, was leibliche Not zu bedeuten hat. Meint Ihr denn, durch Eure sündlichen Gedanken werde es besser mit Euch? Habt Ihr nicht so viel gelernt, daß sich auch das größte Elend ertragen läßt, wenn man es im Vertrauen auf Gottes gnädige Hilfe trägt? Habt Ihr gar kein Beispiel in Eurem ganzen Leben, daß Gott Euch einmal geholfen hat? Und wenn das ist, warum habt Ihr nicht so viel Hoffnung und Geduld, bis der HErr Euch wieder helfen wird?“ „Herr“ rief der Soldat etwas besänftigt, „Hunger tut weh!“ „Nun dem soll wenigstens abgeholfen werden,“ sagte Süssenbach und zog ein Weizenbrot aus der Tasche, daß er, um die Zehrungskosten unterwegs zu mindern, gekauft hatte. „Hier Freund, nehmt und sättigt Euch. Und damit Ihr auch für morgen und übermorgen etwas habt, so nehmt noch ein Almosen von mir an.“ Als er aber bei diesen Worten nach seiner Börse griff und diese völlig leer fand, erschrak er gewaltig! „Gott weiß es,“ sagte er in seiner Verlegenheit zu dem Krückenmanne, „daß ich Euch nicht so helfen kann, als ich gern wollte. Hätte ich Euch gleich zu Anfang statt jetzt zuletzt getroffen, so solltet Ihr Euch nicht über mich zu beklagen haben, als Ihr es jetzt tun werdet. Doch,“ fügte er hinzu, als er beim Durchsuchen der Taschen noch einen Fund gemacht hatte, „damit Ihr sehet, daß ich es ehrlich meine, hier nehmt die paar Kreuzer, die ich gerade noch bei mir finde. Nehmt sie nur, ich werde mit Gottes Hilfe schon nach Hause kommen. Und nun, Gott sei mit Euch. Lernt wenigstens, daß man niemals völlig den Mut sinken lassen darf. Vertraut auf den HErrn, und er wird Euch erretten.“

So schied Süssenbach von dem Manne, anfangs innig erfreut und glücklich. Als er aber jetzt daran gedachte, daß er nun nicht einen Kreuzer mit nach Hause bringe, rief er aus: „Hilf, Gott, und lenke das Herz meiner lieben Chavah, daß sie sich zufrieden gebe!“ Bald hatte er seinen getreuen Michael erreicht, der, ohne zu wissen, daß aus seinem reichen Herrn, jetzt ein so armer geworden war, die Pferde in den fröhlichsten Trab setzte.

Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages, als ein leerer Wagen ungewöhnlich schnell in den Pfarrhof zu Pitschen einfuhr. Die Pfarrersfrau eilte erschrocken ans Fenster. „Du bist's, lieber Mann,“ rief sie dann, „was ist geschehen, daß Du so schnell zurückkommst?“

„Nichts als Liebes und Gutes, meine Chavah!“ antwortete Süssenbach, indem er vom Wagen stieg und dann seine Hausfrau, die ihm mit den Kindern entgegeneilte herzlich umarmte. „Also wirklich nur Liebes und Gutes,“ wiederholte Chavah, „der liebe Gott muß Dir beigestanden haben, daß Du Dein Getreide so schnell verkauft hast; denn andere brauchen dazu mehrere Tage.“

„Ja, gewiß,“ versicherte Süssenbach, „der liebe Gott hat mir beigestanden, daß ich so außerordentlich gute Geschäfte machen konnte. Doch, liebe Chavah, ich will Dir das alles ausführlich erzählen. Für jetzt versorge mich mit einem Morgenbrote; denn ich muß Dir nur sagen, daß ich heute noch völlig nüchtern bin, und auch gestern Abend eine sehr spärliche Mahlzeit gehalten habe.“

„Ei, ei, lieber Mann,“ entgegnete die Hausfrau, „das sieht schlimm aus; in meinem Vorratsschrank ist nur noch ein wenig ziemlich hartes Brot; ich wollte erst heute einen kleinen Vorrat ankaufen. Denn in Deiner Abwesenheit ist auch nicht ein Pfennig eingekommen — und da Du mir nichts zurückgelassen hast, begreifst Du wohl, daß ich an keinen Ankauf denken konnte. Nun, du sollst dafür ein besseres Mittag- und Abendbrot haben.“

Die treue Martha ging nun mit schmerzlicher Miene, daß sie ihrem hungernden Mann keine bessere Nahrung reichen könne, nach dem Vorratsschrank, in welchem doch fast gar kein Vorrat zu finden war, und indem sie den geringen Rest von Brot und Butter ihrem Mann servierte und dieser sogleich zur Stillung seines Hungers schritt, sagte sie: „Lieber Mann, wolltest Du mir nicht sogleich ein Stück Geldes geben, daß ich zum Fleischer schicken kann? Jetzt ist es gerade noch Zeit, um auf Mittag einige Pfund Fleisch zu braten.“

„Warum eine solche vornehme Kost?“ fragte Süssenbach verlegen und ausweichend, „Du siehst ja liebe Chavah, wie trefflich mir dieses Brod mundet! Darum laß dies für heute; morgen oder übermorgen ist's auch noch Zeit dazu. Auch weißt Du ja nicht, wie Gott auf andere Weise, ohne Dein Zutun, Dir diesen Wunsch für heute erfüllen kann, wenn es ihm sonst gefällt.“ „Wie meinst Du das?“ rief Chavah freudig überrascht aus. „Ach jetzt verstehe ich Dich! Du hast mir etwas von Breslau mitgebracht, etwas für meine Küche. Ich will nur gleich mit Michael reden, der hat es sicherlich irgendwo im Wagen versteckt.“ „Nicht also, liebe Chavah,“ erwiderte Süssenbach ernst und nicht ohne schmerzliche Blicke, mit welchen er die arme, getäuschte Hausfrau zurückrief. „Ich meinte es so, daß uns Gott hier in der Stadt ein Herz erwecken kann, welches uns mit Trunk und Speise versorgt. Weißt Du nicht mein gutes Weib, wie oft sich dies schon ereignet hat, und immer, wenn die Not am größten war?“

Die Äußerung ihres Mannes legte mit einem Male den Schmerz schwerer Täuschung auf ihr Angesicht. „Vater,“ sagte sie zu ihm, „wie kommst Du mir vor? Ich bitte Dich, reiße mich aus meiner Angst! Was hast Du für Geschäfte in Breslau gemacht?“ „Gewiß,“ meine Chavah, „beruhigte Süssenbach, „gewiß, ich hoffe zu Gott, sehr gute. Beruhige Dich nur, liebe Mutter, und laß dir alles einzeln erzählen. Dann wirst Du mir beistimmen, daß ich keine besseren Geschäfte machen konnte.“

„Zeige mir Deine Börse,“ sagte die Hausfrau mit ängstlicher Unruhe, „wenn Du mir nicht zuvor Deine guten Geschäfte damit beweisest, so werde ich nicht ruhig werden.“

„Liebe Chavah,“ sagte Süssenbach, „möchtest Du mir die dankbare Freude zu Gott, Dich und unsere Kinder so gesund wiedergefunden zu haben, durch eine solche Unruhe stören, die gewiß nicht recht ist vor Gott?“ — Und als er sah, daß diese Worte den gewünschten Eindruck auf seine Hausfrau machten, fuhr er fort: „Glaube mir, die Not ist übergroß im Land; und wenn alle Menschen, die noch helfen können, dazu berufen sind, so sollen dies gewiß besonders die Geistlichen, von welchen man mit Recht erwartet, daß sie sich der Linderung der allgemeinen Not nicht entziehen. Dies hat auch mich bestimmt, zu tun, was mir möglich war.“ — Hierauf erzählte er ihr den ganzen Hergang auf dem Markt zu Breslau, schilderte ihr den Anblick des schrecklichsten Elends auf der Oderbrücke und fuhr dann wie verlegen und klopfenden Herzens fort: „Was sollte ich thun, liebe Chavah? Etwa wie der Priester und Levit im Evangelium vorübergehen? Nein dies konnte ich nicht? Ich schämte mich vor mir selber und vor Gott im Himmel, daß ich so reich war, während hier die drückendste Armut, Hunger, Blöße und Krankheit mit dem Tode kämpften! Ja mein gutes Weib — ich gab was ich geben konnte — ich teilte links und rechts aus — und als ich die Brücke hinter mir hatte und den Rest meiner Börse zählen wollte, fand ich sie völlig geleert.“

„Nichts mehr darin,“ rief Chavah, wie vom Schrecken halb ertötet aus, „nichts gar nichts?“ „Auch nicht ein Kreuzer,“ setzte Süssenbach hinzu.

Einige Augenblicke saß die arme Hausfrau totenbleich auf ihrem Stuhl; sie wollte reden, aber es war als könne sie das Wort nicht über die Lippen bringen. Dann bedeckte sie mit beiden Händen ihr Angesicht, neigte es auf die Brust und weinte laut. „Meine liebe, theure Chavah,“ sagte Süssenbach in höchster Angst, während die Kinder sich erschreckt an die Mutter klammerten und still mit ihr weinten. — „Mein gutes Weib! — ich weiß, du bist mir böse! — Rede — sprich — ich bitte Dich, rede nur!“

„Es ist entsetzlich,“ sprach diese endlich, „seit vier Tagen sind wir bereits bettelarm! Du kennst unsere Not, weißt, daß wir seit acht Tagen fast nur das trockene Brot hatten — daß unsere Kinder Kleider auf den Winter brauchen; weißt, das Georg mit Schmerzen auf sein Jahrgeld hoffet — daß ich alle unsere Gläubiger bis jetzt vertröstet habe — Du weißt das alles, und dennoch nimmst Du Deinen eigenen Kindern den letzten Bissen Brots und wirfst ihn vor die Hunde!“

„Gott vergebe Dir Deine Sünde,“ rief Süssenbach ernst und traurig aus, während Tränen seine Augen füllten, „Weib, denke an das Wort der Schrift: Ich bin jung gewesen und alt geworden und habe noch nie gesehen den Gerechten verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen. Er ist allezeit barmherzig und leihet gern und sein Same wird gesegnet sein. (Ps. 37, 25. 26.)

„Sich selbst,“ fuhr die Hausfrau weinend fort, „und Weib und Kinder in das tiefste Elend stürzen, heißt nicht Gott vertrauen, sondern Gott versuchen.“

„In das tiefste Elend?“ wiederholte Süssenbach. „Weil Du die augenblicklichen Bedürfnisse für uns und die Kinder nicht sogleich erfüllen kannst, so sprichst Du schon von dem tiefsten Elend? Liebe Chavah, gehe hin nach Breslau — siehe dort an, was Elend heißt, siehe die Mutter mit ihren verhungernden Kindern, siehe die an, welchen die Steine auf der Straße zum Bett dienen, die verlassen von allen Menschen, nichts haben, als ihren kranken Leib und ihre bis zur Verzweiflung niedergedrückte Seele. Das ist das tiefste Elend! Wir aber, — es ist wahr, wir wissen nicht, was wir heut essen — wie wir unsere Kinder kleiden und nähren sollen; aber rings um uns wohnen Menschen, die uns nicht abweisen, wenn wir sie um Hilfe bitten; uns kann noch geholfen werden.“

Die arme Chavah vermochte ihre Tränen noch nicht zu trocknen, ob sie gleich milder flössen. Ihr Haupt hatte sich erhoben, aber ihre Augen blieben von der Hand bedeckt, als scheue sie sich, ihren Mann anzusehen. „Mein teures Weib,“ fuhr dieser nun fort, „ersten Timothei 4, Vers 8 steht geschrieben: Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens“ „Das ist eine schmerzliche Verheißung,“ sagte Chavah. „Nicht doch,“ belehrte Süssenbach, „weißt Du denn, was Gottseligkeit ist? Sie ist das herrliche, selige Bewußtsein des göttlichen Beifalls — jener Friede des Herzens in der Nähe seines Gottes, jene Freudigkeit bei aller Not und Angst des Lebens, jene Zuversicht, daß Gottes Arm niemals zu kurz ist uns zu helfen, wenn man auf sein Wort gestützt, in der Zeit der Not Ihn anrufet. Und das ist nur die Verheißung für dieses Leben. Denkst Du aber an Dort, an den Thron der ewigen Gerechtigkeit und dabei an das traurige Stückwerk Deiner guten gottwohlgefälligen Gedanken, Worte und Werke, wie willst Du Dich dann der Gnade Gottes getrösten, wenn Deine Gottseligkeit Dir nicht die Verheißung nahe gebracht hat, daß Du um Christi, Deines Mittlers und Versöhners willen sollst selig werden? Und das alles nennst Du eine schmerzliche Verheißung?“

Fortsetzung folgt



 Der obigen Geschichte Teil I und Teil III

 

Aus: NN, Senior Süssenbach, Teil II, in: Echo aus der Heimath und Fremde, Hgb. J.D. Prochnow, Nr. 8, 5. Jhrg., Pfarrhaus der St. Johannis-Kirche Moabit, Berlin 1868, [S. 117-121]

Anmerkung der Redaktion:
1) Im Original lautet der Titel der Erzählung: „Senior Süssenbach“. Der Wortlaut wurde der zuletzt gültigen Rechtschreibung angeglichen.
2) Pastor Süssenbachs Kurzvita in der „Presbyterologie des evangelischen Schlesiens“    und eine ausführliche in der „Geschichte der Stadt Pitschen“  


Empfehlung: Der 5. Band der o.a. Zeitschrift im Antiquariatshandel 

 



ERSTELLT: 04.XII 2011



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