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Home › Silesiana › Das Mädchen mit dem Gulden - 1. Teil

 

 

             
DIE EVANGELISCHE KIRCHE IN OBERSCHLESIEN



Das Mädchen mit dem Gulden1)
Eine
wahre Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges


 

I.
 

 Im schlesischen Fürstentum Brieg liegt die kleine Stadt Pitschen , hart an der polnischen Grenze. Hier lebte und wirkte zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges der Pastor und Senior Süssenbach2), ein Mann, der die Liebe seinem HErrn auf solche Weise an den Brüdern betätigte, daß er den wenigen beizuzählen ist, welche es, um anderen zu dienen und zu helfen, zu einer völligen Verleugnung ihrer selbst gebracht haben. Fand er auch an seiner Ehefrau, die er, weil sie Eva hieß, gern mit dem hebräischen Namen Chava, seine liebe Chava, d. h. sein liebes Leben, nannte, um deswillen oft Widerspruch, weil er selbst die nötigste Rücksicht auf sie, auf die Kinder und sein ganzes Hauswesen aus den Augen setzte, so gelang es ihm doch immer, die Tränen seiner Familie, die um seiner allzugroßen Wohltätigkeit für Fremde willen, vielfach litt, wieder zu trocknen und sie zur aufrichtigen Teilnahme an seinem seligen Bewußtsein, fremde Not gelindert zu haben, zu bewegen, indem er allen Vorstellungen darüber seinen Lieblingsspruch entgegenstellte: „Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens.“ 1 Tim. 4, 8 .

 




 

Es war im Spätherbst eines der letzten Jahre des Dreißigjährigen Krieges, als sehr früh des Tages Herr Frohberger, der Stadtschreiber des Ortes, bei ihm eintrat, als Süssenbach eben mit seiner Familie den Morgensegen gebetet hatte. „Ehrwürdiger Herr Senior,“ sprach er, „wenn ich so früh zu Euch komme, daß es fast unschicklich ist, so seid Ihr doch selbst daran Schuld; denn ich komme im Dienst meiner Amtspflicht.“


„Ei, Herr Stadtschreiber,“ antwortete der Senior mit leichtem Lächeln, „Ihr wollt doch nicht etwa einen Verhaftsbefehl gegen mich vollziehen?“


„Nun,“ erwiderte der Ratsherr, „es handelt sich allerdings um einen Verhaftsbefehl! doch verzeiht, ehrwürdiger Herr, meinen unziemlichen Scherz, und erlaubt, Euch in Kürze die Ursache meines so frühen Besuches mitteilen. Die Ratsdiener haben gestern Abend ein Mädchen zur Haft gebracht, was man in einer Scheuer versteckt gefunden hatte. Bei dem Verhör, das ich sogleich mit ihr vornahm, gestand es, daß es aus einem Dorf bei Landsberg (etwa drei Meilen von Pitschen) gebürtig sei, Margarethe Roth heiße, weder Eltern noch Geschwister mehr habe und nun von Ort zu Ort ziehe, um einen Dienst zu suchen. Ihr Alter gab sie auf 20 Jahre an, und so ärmlich gekleidet sie auch ist, so hat sie doch nicht das Ansehen einer losen Dirne; auch hat sich nichts gefunden, wodurch Verdacht, daß sie ein böses Werk habe ausführen wollen, bestätigt würde. Nur Eins“ —


„Nein, gewiß nicht,“ fiel der Senior schnell ein, „genau dasselbe hat sie mir auch gesagt, und das mit einem solchen ehrlichen Gesichte, daß es eine Sünde wäre, an der Wahrheit ihrer Aussagen zu zweifeln!“


„Also Ihr kennt sie doch, Herr Senior?“ — fragte der Stadtschreiber.

„Allerdings,“ antwortete Süssenbach, „wenn es dieselbe ist, woran ich nicht zweifle. Als ich gestern Nachmittag auf einem kleinen Spaziergang vor der Stadt nach dem Fußweg ablenke, der nach der Mühle führt, sehe ich das Mädchen am Feldrand sitzen und weinen. Da erzählt sie mir denn alles das, was Ihr eben mitgeteilt habt, und fragte mich noch, ob ich ihr nicht etwa einen Dienst in der Stadt nachweisen könnte. Da nannte ich ihr denn einige Familien, von welchen ich glaubte, daß sie das arme Mädchen in Dienst nehmen würden; denn in meinem eigenen Haus will es doch nicht gut angehen. Ich tröstete sie noch, hieß sie guten Mutes sein, der Hilfe des HErren vertrauen und in Gottes Namen zur Stadt gehen.“


„Und das ist alles?“ — fragte der Stadtschreiber mit ernster Amtsmiene.

 

Der Senior ward etwas verlegen und blickte schüchtern auf seine Hausfrau, die mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zugehört hatte. Als er in seinem Schweigen beharrte, fuhr der Stadtschreiber fort: „Ehrwürdiger Herr Senior, es handelt sich um den ehrlichen Namen des Mädchens, wenn Ihr also noch etwas zu erzählen hättet, so würde ich Euch bitten, es zu tun.“


„Wenn es das ist, antwortete Süssenbach, „so muß ich wohl reden, selbst auf die Gefahr hin, daß mich meine liebe Chavah schelten wird. Das arme Mädchen dauerte mich gar so sehr, und da sie mir sagte, daß sie nicht einen Pfennig Geldes habe, so gab ich ihr das einzige Stück, das ich bei mir trug.“

„Und was war das?“ — fragte der Stadtschreiber.


Süssenbach blickte schüchtern wieder auf seine Frau und sagte endlich halblaut: „Es war ein sächsischer Gulden.“ —

„Ich dachte es wohl,“ fiel die Hausfrau schnell ein, und zwar mit einer Stimme, die dem Weinen sehr nahe war, „konntest Du Dein Haus wirklich so ganz und gar vergessen, daß Du dem fremden Mädchen alles gabst, und für uns gar nichts behieltest?“ —


„Meine liebe Chavah," antwortete der Senior, „sei nicht böse, und bedenke, ich hatte ja nichts weiter, als das einzige Stück Geldes bei mir.“ —

„Und was hast Du im Hause?" — fragte die Ehefrau.

„O sehr viel,“ entgegnete Süssenbach. „Ich habe ein gutes, liebes Weib, das Leid und Freud´ willig mit mir trägt, und mit mir der Hilfe des HErrn vertraut. Auch habe ich vier liebe Kinder, die unsers Herzens Freude sind. Bin ich nicht ein reicher Mann, meine liebe Chavah? Und gilt es Dir denn gar so wenig, wenn ich Dir sage, wie glücklich und froh das arme Mädchen war, als ich ihr das Geldstück gab?“ —

„Ist es dies hier, Herr Senior?“ fragte der Stadtschreiber, indem er einen sächsischen Gulden vorzeigte.

„Wenigstens ein ähnliches,“ antwortete jener, indem er es flüchtig betrachtete, und dann schnell hinzusetzte: „Ich darf doch nicht fürchten, Herr Stadtschreiber, daß Ihr das Geld dem Mädchen abgenommen habt?“


„Allerdings,“ versicherte Herr Frohberger, „und das ging so zu. Bei der Untersuchung antwortete das Mädchen auf die Frage, warum sie sich in die Scheuer verborgen habe? — „sie hätte darin die Nacht zubringen wollen, weil es ihr durchaus an Geld gefehlt habe, um in einem Wirtshaus ein Unterkommen zu finden.“ Als sich nun dennoch diesen Gulden bei ihr fand, mußte ihre Aussage Verdacht erregen; denn auf ihre Entschuldigung: „dieser Gulden sei ihr so wert und lieb, daß sie ihn um keiner Not willen ausgeben wolle“ — konnte natürlich in ihren Verhältnissen keine Rücksicht genommen werden. Als ich sie nun weiter fragte, von wem sie dies Geld erhalten habe, antwortete sie: „ein bejahrter Herr, der auf jeden Fall ein Geistlicher sei, habe es ihr ohne ihre Bitte geschenkt.“ Nun — und verzeiht mir, ehrwürdiger Herr, — gibt es in unserer Stadt nur einen Mann, auf welchen diese Aussage passen könnte, — nämlich Ihr, verehrter Herr Senior! Ich hielt es daher für meine Pflicht, bei Euch anzufragen, und da es sich also verhält, so wollte ich Euch ersuchen, dies Geldstück zurückzunehmen.“

 

„Was fällt Euch ein, Herr Stadtschreiber?“ rief Süssenbach überrascht aus. „An diesem Geld habe ich keinen Teil mehr! Es ist das ausschließliche Eigentum der Margarethe Roth. Was wäre das für eine Wohltätigkeit, die erst gibt, und dann wieder nimmt?“

 

„Wie dem auch sei,“ fuhr der Stadtschreiber hier nicht ohne Zeichen der Verlegenheit fort, „ich wage es dennoch, ehrwürdiger Herr Senior, meinen Antrag zu wiederholen; denn in einem Hauswesen, wie das Eure, ist — so scheint es mir — ein Gulden mehr oder weniger nicht ganz gleichgültig. Es ist dem Rat und der ganzen Stadt nicht unbekannt, daß Eure aufrichtige Liebe zur leidenden Menschheit Euch schon oft zu so großen Opfern verführt hat, daß Ihr Euch selbst von allen Mitteln entblößet und —“

 

„Ihr irrt Euch, lieber Herr,“ warf Süssenbach ruhig ein, „wir haben uns noch niemals hungrig zu Bett gelegt, und wenn ich bedenke, wie oft und wie sehr mir mein Gott durch andere Menschen schon geholfen, und wie wenig ich dagegen getan, so erscheine ich immer noch als der größte Schuldner. Gebt Euch keine Mühe, Herr Stadtschreiber, mich auf andere Gedanken zu bringen, und erlaubt mir die Bitte, daß Ihr dies Geldstück der armen Eigentümerin zurückbringt — sie wird es eben gar nötig brauchen.“

 

„Eben weil dies nun nicht der Fall ist,“ sagte Herr Frohberger, „so wage ich meine Bitte zu wiederholen. Ich kann Euch nämlich die beruhigende Mitteilung machen, daß unser Herr Bürgermeister selbst, dem ich noch gestern Abend den Vorfall mitteilte, sich gern bereit erklärt hat, das fragliche Mädchen als Magd in sein Haus aufzunehmen, wenn sich aus der Untersuchung ergäbe, daß sie unbescholten ist. Nun ist Eure Aussage, Herr Senior, so befriedigend, daß ich die Magarethe Roth augenblicklich in Freiheit setzen und sie der Frau Bürgermeisterin zuschicken werde.“

 

„Gott sei Dank!“ rief der Senior freudigen Angesichts, „daß Er mein Gebet gnädigst erhört hat. Und nun könntet Ihr mir alle Schätze der Welt bieten, oder sonst mit einer Strafe mich bedrohen — nun nehme ich dies Geld noch viel weniger zurück.“

Und damit wandte er sich ab und machte Miene, in das Nebenzimmer einzutreten. Der Stadtschreiber, der nun alle weiteren Bitten für unnütz hielt, entfernte sich mit tiefer Verbeugung und mit einem fragenden Blick auf die betrübte Hausfrau.

Als der Stadtschreiber das Zimmer verlassen hatte, näherte sich Süssenbach seiner Hausfrau, die sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, mit beiden Händen ihr jüngstes Kind umfaßte und dabei stille Tränen weinte. „Meine liebe Chavah,“ sagte er, „Du weinst? Bist Du mir böse?“

„Soll ich es nicht sein?“ antwortete sie, „Du weißt, wie nötig wir eben jetzt einige Groschen Geldes brauchen! Georg muß ein Paar neue Schuhe haben und Marie kann sich in diesem abgerissenen Kleidchen nicht mehr vor den Leuten sehen lassen. Es ist heute der fünfte Tag, daß ich abermals keine Fleischspeise bereiten kann. Als ich Dich diesen Morgen um einige Groschen in die Wirtschaft bat, sagtest Du, Du hättest auch nicht einen Pfennig, und doch konntest Du einem fremden Mädchen, das gar nicht so in Not ist, als Du glaubst, 16 Groschen auf einmal geben! Vater, denke an deine Kinder!“

„Zürne mir nicht, meine liebe Chavah,“ tröstete der Senior. „Ich wußte es gestern nicht, daß das fremde Mädchen heute ein Unterkommen bei anderen finden würde, was wir ihr selbst nicht bereiten konnten. Geholfen mußte ihr werden! Ich hatte nichts als den Gulden, was blieb mir also anderes übrig? Und wenn wir auch heute wieder keine Fleischspeise haben, so haben wir doch Brot in Vorrat auf mehrere Tage; und was die Kleidung für die Kinder betrifft, — nun mit Gottes Hilfe wird dazu auch bald Rat werden.“

„So sprichst Du schon seit vielen Wochen,“ erwiderte die Hausfrau, „und vergissest, daß man dem lieben Gott nicht alles überlassen soll, sondern soll auch selbst mit sorgen. Du hättest durch den Herrn Stadtschreiber dem Mädchen ein oder zwei Groschen geben und das Übrige zurücknehmen sollen.“

„Meinst Du das im Ernst, mein gutes Weib?“ fragte Süssenbach. „Eher hätte ich doch dies mein Kleid ausgezogen und den Armen gegeben, als eine Wohltat zurücknehmen, die ich um des HErrn willen getan habe. Merkst Du nicht, liebe Chavah, daß eben ganz besonders auf diesem Gulden Gottes wunderbarer und gnädiger Segen ruht? Hätte ich der armen Magd gar nichts, oder nur wenige Pfennige gegeben, so wäre das alles anders geworden. Sie hätte dann in einem Wirtshaus ein Nachtlager gesucht, kein Aufsehen erregt, wäre nicht gefänglich eingezogen worden und ich hätte keine Gelegenheit gehabt, ein gutes Zeugnis für sie abzulegen und ihr dadurch eine so gute Herrschaft zuzuweisen. Hier, meine liebe Chavah, wo auf meiner kleinen Gabe so sichtbar Gottes Segen ruht, wäre auch die leiseste Reue darüber eine Versündigung an Gott und eine Verspottung Seiner Weltregierung.“

„Aber,“ warf die Hausfrau ein, „es kann nicht Gottes Wille sein, daß wir um anderer willen uns selbst in die äußerste Not versetzen. Es ist auch Gottseligkeit, an seine eigene Familie zu denken.“

„Ei gewiß, mein teures Leben,“ erwiderte der Hausherr, „aber wenn Du damit mir einen Vorwurf machen wolltest, so würdest Du unrecht tun. Wohl hat der Vater zu allernächst für seine Kinder zu sorgen, weil dadurch die allgemeine Sorge für das häusliche Wohl in Ordnung gehalten wird; aber es kann wohl Fälle geben, wo der Christ, und ganz besonders der christliche Seelsorger, erst an die Fremden denken muß, ehe er an die Seinigen denkt. Und das ist hier der Fall. Denke, liebe Chavah, das arme Mädchen war ganz verlassen, und fremd und ohne alle Mittel sich zu helfen. Es war nun sicher Gottes gnädige Führung, daß wir uns begegneten; sie war von Gott an mich gewiesen worden — konnte ich mich weigern, den Willen Gottes zu erfüllen? War es nicht als Diener meines HErrn meine Pflicht, zuerst fremde Not zu lindern, ehe ich an mein eigenes Haus denken durfte? Wenn ich dem armen Mädchen nicht half, der ich doch helfen konnte, so war ihr die Hilfe von anderen wenigstens ungewiß; mir aber und unserem Haus ist die Hilfe jederzeit gewiß. Sollten wir wieder einmal so weit kommen, daß es uns an dem Allernötigsten fehlte, so würde ein hochedler Rat und getreue Bürgerschaft ihren alten Senior nicht in der Not lassen, und wiederum aushelfen, wie es schon öfters geschehen ist. Bist Du mir noch böse, liebe Chavah?“

„Wie könnte ich es,“ antwortete sie, „wenn Du mir das so tröstlich auseinandersetzest, und mich an die oft so wunderbare Hilfe erinnerst, die uns Gott schon hat widerfahren lassen. Aber lieber Mann, weißt Du denn auch, daß ein solcher Fall der allerhöchsten Not bald wieder eintreten wird, wenn nicht bald Hilfe kommt? Meine kleine Wirtschaftskasse ist schon seit fünf Tagen völlig leer, auch Du hast nicht einen Pfennig mehr mitzuteilen, — wenn sich auch die Kinder, so übel es gehen mag, wegen Kleider und Schuh noch einige Tage hin behelfen mögen; was soll dann werden? Auf gewisse Einnahmen haben wir jetzt gar nicht zu rechnen, und die ungewissen sind um Deiner Herzensgüte willen doppelt ungewiß. Wenn wir beide uns auch mit schmaler und magerer Kost gern zufrieden stellen und es ertragen können, so bedürfen doch die Kinder wohl bald eine kräftigere Nahrung, namentlich Marie, die von ihrer Krankheit sich noch nicht völlig erholt hat und nach des Arztes Vorschrift eigentlich täglich eine kräftige Fleischbrühsuppe genießen sollte. Bedenke, lieber Mann, daß mich das sehr bekümmern muß; ich will doch auch nicht so öffentlich vor allen Leuten erzählen, wie ärmlich wir uns behelfen müssen. Woher nun jetzt Hülfe erwarten?“

„Woher?“ wiederholte Süssenbach mit der zuversichtlichsten Freude, „von dem, der allemal geholfen hat, von unserm allmächtigen und allgütigen Vater im Himmel. Auch — und das fällt mir eben bei — sind wir ja gar nicht so arm, als du glaubst, liebe Chavah. Haben wir auf dem Boden nicht das liebe Getreide noch liegen, das wir verkaufen können? Es mag gegen zwanzig Scheffel gutes Korn sein, wenn ich anders richtiges Maaß erhalten habe. Du weißt, daß wir die ausstehenden Reste, die allerdings bedeutend sind, noch wollten eingehen lassen, ehe wir es zum Verkauf brächten; aber unter solchen Umständen müssen wir wohl eher dazutun. Darum mache ich Dir den Vorschlag, daß wir auf nächsten Mittwoch das Getreide auf den Markt zu Breslau zum Verkauf bringen.“

„Gewiß,“ sagte die Hausfrau, „das ist wohl noch das einzige Rettungsmittel. Aber vergiß nicht, wie vielerlei nötige Ausgaben wir schon auf diesen Erlös gerechnet haben, und namentlich das Halbjahrgeld für unseren ältesten Sohn. Zum Glück stehen die Getreidepreise jetzt sehr hoch und es ist zu hoffen, daß wir einige Taler für uns erübrigen können.“

„Zum Glück, sagst Du?“ fragte der Senior, „und Tausende unserer armen Mitbrüder seufzen und sprechen: zum Unglück! Daß zu des Krieges Gräuel noch die Teuerung gekommen ist, ist eine große schwere Plage."

„Ja freilich,“ entgegnete Chavah, „aber es ist doch nicht unsere Schuld; wir leiden ja bei der allgemeinen Teuerung auch mit. Also schicke Michael mit dem Getreide nach Breslau und zwar sogleich morgen früh, denn der Weg ist weit; und präge es ihm ein, daß er auf gute Preise halte.“ —

„Den Michael?“ fragte Süssenbach, „und er allein? Ich gedachte selbst mitzufahren.“

„Ei warum das?“ fragte die Hausfrau, „Michael ist eine treue, ehrliche Seele, und hat schon zwölf Jahre uns treu gedient. Solltest Du Mißtrauen gegen ihn haben?“

„Nicht im Geringsten,“ antwortete der Hausvater. „Das wäre eine Sünde, vor der mich Gott behüte. Aber ich hatte mir schon längst vorgenommen, nach Breslau zu reisen, um einige alte Freunde, die ich seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen habe, wieder einmal aufzusuchen. Auch gestehe ich Dir, daß es eine besondere Freude für mich sein würde, das liebe Getreide selbst zu verkaufen, um nötigen Falls den ärmeren Käufern einige Groschen erlassen zu können. Ich würde mich sehr freuen wenn Du mit mir darin einverstanden wärest, daß ich mit dem Michael nach Breslau fahre.“

„Eben deßhalb,“ sagte Chavah, „wünsche ich, daß Michael allein zu Markte führe. Du bist zu gut, und verstehst auch gewiß den Handel nicht recht. Michael dagegen treibt den Verkauf schon seit so vielen Jahren und immer zu unserer Zufriedenheit. Dabei hat er nichts weniger, als ein hartes Herz, und wenn Du es ihm sagst, daß er nach Umständen einige Groschen im Preise nachlassen, soll, so wird er es thun. Zudem weiß ich's doch nicht, ob es dem Senior von Pitschen wohl anständig ist, wenn er in eigener Person sein Getreide zu Markte bringt.“

„Was soll darin Unschickliches liegen, liebe Chavah?“ fragte Süssenbach. „Handel und Wandel muß, nach Gottes Ordnung, unter den Menschen sein, sonst könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen; und gerade der Handel mit Getreide ist der allernotwendigste. Ist es nicht gerade für einen Geistlichen, namentlich in jetziger teuren Zeit, ein Gebot, daß er für die leibliche Nahrung seiner Mitmenschen mit bedacht fei? Und wie erquickend muß es sein, wenn er denen, die nach Brot verlangen, zurufen kann: Kommt her zu mir, wir wollen nicht allzu ängstlich mit einander rechnen. Ja gewiß, ich fahre dies Mal mit zu Markte und werde zu gleicher Zeit einige Einkäufe für Dich und unsere Kinder machen. Willst Du mir diese Freude nicht gönnen, liebe Chavah?“

Diese merkte nun wohl, daß sie, ohne weh zu tun, in ihren Mann nicht weiter dringen dürfe und sagte deßhalb: „Ich kann und mag nicht dawider sein, wo Du Dir eine besondere Freude vorbehalten hast. Aber, lieber Mann, Du brauchst deßhalb den Verkauf nicht ganz allein zu besorgen; Michael kann das verrichten, nur in besonderen Fällen brauchst Du Dich in den Handel zu mischen. Wenn Du nun auch nicht gerade auf den höchsten Preis hältst, so halte doch wenigstens einen guten Preis. Benutze, wie alle andern Getreide-Verkäufer, die Zeit, die der Einzelne, wenn er nicht überschwänglichen Vorrat hat, nun einmal nicht ändern kann, und bedenke, diese Einnahme ist der Hauptbestandteil Deines Diensteinkommens und kommt alle Jahre nur einmal. Bedenke, lieber Mann, es ist uns ein langer Winter prophezeit, und der Erlös aus dem Getreide ist, bis auf wenige Groschen, die einzige Einnahme bis Ostern. Darum halte Dich lieber ein oder zwei Tage länger in der Stadt auf, um die besten Preise abzuwarten.“

„Soll ich die Armen drücken?“ fragte der Senior.

„Das sollst Du nicht,“ antwortete sie, „nur nicht um gar zu wohlfeilen Preis verkaufen.“

„Nun, ich werde mein Möglichstes tun,“ tröstete Süssenbach, „und werde gewiß so reich zurückkommen, wie ich es lange nicht gewesen bin.“

Fortsetzung folgt


 

Der obigen Geschichte Teil II und Teil III

 


Aus: NN, Senior Süssenbach, Teil I, in: Echo aus der Heimath und Fremde, Hgb. J.D. Prochnow, Nr. 8, 5. Jhrg., Pfarrhaus der St. Johannis-Kirche Moabit, Berlin 1868, [S. 113-116]

Anmerkung der Redaktion:
1) Im Original lautet der Titel der Erzählung: „Senior Süssenbach“. Der Wortlaut wurde der zuletzt gültigen Rechtschreibung angeglichen.
2) Pastor Süssenbachs Kurzvita in der „Presbyterologie des evangelischen Schlesiens“    und eine ausführliche in der „Geschichte der Stadt Pitschen“  


Empfehlung: Der 5. Band der o.a. Zeitschrift im Antiquariatshandel 

 

 



ERSTELLT: XI 2011



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